Erlebt und erzählt von Udo Stokvis, dem damaligen 2. Ingenieur der "Niedersachsen, aufgeschrieben von Ralf Sander.
Während unserer Caribik - US Golf - Reise Anfang Juni 1966 mit der MS "Niedersachsen" war New Orleans unser letzter Hafen vor der Überfahrt nach Europa. Wie immer wurde die Maschine klar gemacht und der Brücke das OK gemeldet.
MS "NIEDERSACHSEN"
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gebaut für Hugo Stinnes Brenntag, Hamburg
Typ: Frachtschiff
Bauwerft: AG Weser, Werk Seebeck, Bremerhaven
Baujahr: 1954
Baunummer: 768
Größe in BRT: 4.130
Länge: 119,9 m
Breite: 15,8 m
Antrieb: Zwei MAN Zweitakt Sechszylinder Dieselmotoren, je 2260 PS über Getriebe mit Vulcankupplungen auf einen Propeller
Geschwindigkeit: 14,5 Knoten
Besatzung: 30 Mann
Rufzeichen: DMMQ
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Nach ca. 4 Stunden Revierfahrt flussabwärts ging ein Bumsgeräusch mit einer darauffolgenden leichten Vibration durch das Schiff.
Die Schiffsführung und der Lotse vermuteten, dass es einen Baumstamm - die bei Hochwasser schon mal flussabwärts treiben - gerammt hatte. Durch den großen Tiefgang des Schiffes und den trüben Mississippistrom konnte der Schiffspropeller nicht begutachtet werden. Die Reise wurde trotz der leichten Vibration fortgesetzt. Mit zunehmender Reisedauer traten die ersten Probleme mit der Wellenabdichtung der Propellerschwanzwelle auf. Das Schiff war mit einer neuartigen ölgeschmierten DW-Wellenabdichtung - anstatt der damals noch üblichen Pockholzlagerung mit Stopfbuchse - ausgerüstet. Das Öl trat vermehrt aus und der Wassereinbruch in den Wellentunnel vergrößerte sich. Dieses Problem konnte vom Maschinenpersonal noch beherrscht werden.
Nach 5 Tagen auf See, fast exakt zur Mittagszeit um 12 Uhr, ging ein starkes Vibrieren mit starken Geräuschen durch das Schiff und dann herrschte himmlische Ruhe auf der "Niedersachsen". Beide Hauptmotoren standen still. Kaum vorstellbar, es waren fast 5000 PS abgewürgt.
Was war passiert, die große Ursachenforschung begann.
Es wurden von der Maschinenleitung koordinierte Untersuchungen vorgenommen. Man begann mit der Propellerwelle, weil es nahe lag, dass sie sich festgefressen hatte. Es wurde eine Schelle angefertigt und auf der Welle befestigt. Nachdem man die Welle von der Schwanzwelle - das letzte Wellenteil mit dem aufgesetzten Propeller - getrennt hatte, versuchte man die Schwanzwelle mittels eines Hubzuges zu bewegen. Die Welle mit Propeller bewegte sich wider Erwarten einwandfrei. Jetzt wurden die Hauptmotoren untersucht. Vielleicht war ja ein Kolbenfresser die Ursache. Nein, auch die Motoren ließen sich einwandfrei mit der Törnmaschine drehen. Eine anschließende Triebwerksinspektion ergab keinen Hinweis auf eine Haverie.
Jetzt blieb nur noch das Getriebe als Ursache übrig. Ein Albtraum der Maschinenleitung. Musste das Schiff jetzt vielleicht mit einem Schlepper in den nächsten Hafen geschleppt werden? . . . und das kostet dann viel, viel Geld.
Es wurden als erstes die Inspektionsdeckel entfernt. Was dann zu sehen war, versetzte die Maschinenleitung in eine Schockstarre. Herausgebrochene und verkeilte Getriebezähne überall. Im Normalfall handelte es sich hier um einen Totalschaden. Aber jetzt begann von der Maschinencrew eine Arbeit, die in der Seefahrt seinesgleichen sucht! Vielleicht einmalig!
Zwischen der Maschinenleitung und der Reederei wurde vereinbart, den Versuch einer Notreparatur durch das Maschinenpersonal durchzuführen, um mit eigener Kraft einen Hafen zu erreichen. Glücklicherweise herrschte auf dem sonst stürmischen Nordatlantik ungewöhnlich gutes Wetter. Allerdings versetzte eine starke Dünung das Schiff in mehr oder weniger starkes rollen.
Unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen, um kein Menschenleben zu gefährden, wurde das tonnenschwere Getriebeoberteil demontiert. Zuvor mussten noch Rohre, Pumpen etc. abgebaut werden, um einen sicheren Stellplatz für das Getriebeoberteil zu gewährleisten. Jetzt kam das ganze Ausmaß des des Schadens zum Vorschein. Es war total niederschmetternd. Die beiden Ritzel und das große Getrieberad waren durch verformte und abgebrochene Zähne ineinander verkeilt. Der aufgeschrumpfte Zahnkranz des großen Getrieberades hatte sich um 20 mm seitlich verschoben und auf dem Getriebekörper verdreht. Im Zahnkranz zeigten sich diverse Risse.
Nach erneuter Beratung begann man mit der Reparatur. Zuerst wurde das untere Getriebegehäuse gegen herabfallende Metallstücke und den zu erwartenden Schleifstaub mit Persennigtuch abgesichert. Nun wurde die zuvor an der Schwanzwelle verwendete Schelle in Getriebenähe an der Welle befestigt, so dass das große Getrieberad bewegt werden konnte, um die losen und verkeilten Zahnstücke zu entfernen. Die Schäden an den Zahnrädern verliefen um den gesamten Umfang. Die Getrieberäder mussten sich mehrfach bis zum Stillstand gedreht haben.
AG Weser Vulcan-Getriebe im Schnitt. Die Größe der Ritzel betrugen ca 600 mm im Durchmesser und das große Getrieberad ca 1600 mm.
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Jetzt begann die Sisyphusarbeit: Meißeln von Hand, Schleifen und Glätten der verformten Zähne.
Fotos: U. Stokvis
Abgebrochene und herausgemeißelte Getrieberadzähne
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Das Maschinenpersonal konnte sich in diesem Moment glücklich schätzen, dass auf der "Niedersachsen" eine Flex (Winkelschleifer) zur Ausrüstung gehörte. Es war damals noch nicht üblich, so ein Werkzeug als Inventar an Bord zu haben. Beim Schleifen mit der Flex wurden wegen des Funkenfluges und der sich dort noch befindlichen Ölreste extra Feuerwachen eingesetzt. Es wurde gemeißelt, mit der Flex vorgearbeitet, dann gefeilt und anschließend mit Schmiergel geglättet. Mittels rot/weiß Farbeindringverfahren wurden Rißprüfungen durchgeführt, Druckstellen mittels Tuschierpaste ermittelt und nachgearbeitet und das Zahn für Zahn an allen drei Getrieberädern - immer und immer wieder. Risse im Radkörper wurden abgebohrt, um ein Weiterlaufen zu verhindern. Radkranz und Radkörper wurden mittig angebohrt und mit Stiften gesichert.
Das Abbohren von Rissen
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Es wurde im 2- Stunden- Rhythmus rund um die Uhr fast bis zur Erschöpfung gearbeitet und das vier Tage und Nächte lang. In Vorwärtsdrehbewegung waren die Getrieberäder fertig bearbeitet. Die Reparurarbeiten wurden in diesem Zustand beendet, denn zum einen war ein Schlechtwettergebiet im Anzug und zum anderen das Reparaturwerkzeug fast aufgebraucht. Rückwärtsfahrmanöver waren somit auf jeden Fall ausgeschlossen.
Jetzt begann das große Zittern und Herzklopfen, denn der erste Probelauf stand bevor und die Frage hieß: Hält das Getriebe?
Die Hauptmotoren wurden einzeln angelassen. Bei geringster Motordrehzahl wurde durch das Zuschalten der hydraulischen Vulcankupplungen das Getriebe in Bewegung gesetzt. Die Propellerwelle war noch nicht mit dem Getriebe verbunden. Der Probelauf wurde mit stetig erhöhter Drehzahl unter ständiger Kontrolle des Getriebes fortgeführt. Nachdem dieser Test ohne Komplikationen verlief, wurde die Propellerwelle wieder mit dem Getriebe verbunden und der gleiche Testablauf nochmals vollzogen - auch ohne nennenswerte Probleme. Nach Beendigung der letzten Probeläufe entschloss man sich nach Absprache zwischen Maschinenleitung und der Reederei, die Reise mit eigener Kraft in Richtung Neufundland zu einer Werft fortzuführen. Der Maschinenleitung war es aufgrund des immer noch bestehenden hohen Risikos mit dem defekten Getriebe zu riskant, die Reise über den unberechenbaren Nordatlantik nach Europa fortzuführen.
Unter allerhöchster Anspannung und mit verstärkten Wachen begann das Abenteuer der Weiterreise. Eine Person mit einem großen Hammer wurde permanent am Getriebe postiert. Diese sollte bei der kleinsten Unregelmäßigkeit am Getriebe dem wachhabenden Ingenieur am Fahrstand Signale zum Stoppen der Maschinen übermitteln. Nachdem es so aussah, dass das Getriebe störungsfrei lief, wurde im 12-Stunden-Takt die Leistung auf maximal 50% erhöht. Täglich wurde für eine eingehende Getriebekontrolle gestoppt. Die Crew war froh, dass es nur noch zwei Tage bis Neufundland in Kanada waren, da erreichte die Schiffsleitung folgendes Telegramm von der Reederei:" Leider ist die in Neufundland vorgesehene Werft nicht in der Lage, eine derartig komplizierte Getriebereparatur durchzuführen. Aufgrund dessen sollte das Schiff Kurs auf Europa in Richtung Heimat nehmen. Die MS "MÜLHEIM-RUHR", ein Schiff der gleichen Reederei, ist auf dem Weg von Hampton Roads in Richtung Bremen unterwegs. Sie soll die "Niedersachsen" in 2 bis 3 Tagen erreichen und dann auf den Haken nehmen (abschleppen)." Daraufhin machte man die "Niedersachsen" schleppfertig. Das heißt, einer der beiden Anker wurde unter widrigsten Umständen an Bord geholt, dann die Ankerkette mit verschiedenen Vorläufern aus Kunststoff und Stahl versehen. Die Freude der gesamten Besatzung war groß, als die "Mülheim-Ruhr" in Sichtweite kam. Jetzt ist das schlimmste überstanden.
MS "MÜLHEIM-RUHR"
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...aber die Ernüchterung folgte auf dem Fuße. Die "Mülheim-Ruhr" sollte aus Termingründen durchfahren. Allerdings vereinbarte man auf hoher See im Nordatlantik eine wohl einmalige Aktion. Beide Schiffe stoppten in einem gewissen Abstand parallel zueinander. Die auf der "Niedersachsen" befindlichen Passagiere wurden mittels eines Rettungsbootes auf die "Mülheim-Ruhr" übergesetzt. Der 2. Ingenieur ging mit an Bord und suchte sich noch einige Werkzeuge, wie Meißel, Feilen etc für alle Eventualitäten aus, und brachte diese mit zur "Niedersachsen". Mit "dreimal lang" aus der Schiffstyfon verabschiedete sich die "Mülheim-Ruhr" und verschwand am Horizont.
beim Klick auf das Tyfon ertönt "3 mal lang"
Wir waren wieder auf uns allein gestellt, jedoch die Hoffnung stirbt zuletzt.
Die Reederei hatte aber ein neues Versprechen bereit. In der Nähe von uns befand sich ein Schleppzug - von den Großen Seen kommend - auf dem Weg nach Europa. Dieser sollte uns dann im Notfall auf den Haken nehmen. Von diesem Schleppzug hat die Schiffsführung weder etwas gesehen noch etwas über Funk gehört. Durch die von der Maschinenleitung eingeführten strengen Kontrollen - ohne übermütig zu werden - hatte man nach weiteren 14 Tagen auf See den englischen Kanal erreicht. Während dieser zwei Wochen auf See begann die Stimmung an Bord mehr und mehr zu kippen. Das Trinkwasser wurde rationiert. An Bord gab es keinen Frischwassererzeuger (Seewasserentsalzungsanlage). Es musste mit Seewasser geduscht werden. Der Proviantvorrat ging auch zu Ende und somit wurden auch die Mahlzeiten entsprechend verkleinert.
Wie der Teufel es wollte, fing das Getriebe im Eingang des englischen Kanals wieder an zu rumoren. Die Schiffsführung entschloss sich aufgrund des großen Schiffsverkehrs, alles auf eine Karte zu setzen und ohne zu stoppen bis Plymouth als Nothafen weiter zu fahren. Man fuhr mit einer Nacht- und Nebelaktion durch eine elegante Kurve in die Bucht von Plymouth ein und ließ den noch vorhandenen Anker fallen. Über Nacht wurde mit allen zur Verfügung stehenden Kräften das Getriebe nachgearbeitet. Im Morgengrauen verließ man die Bucht ohne ein Rückwärtsmanöver ausführen zu müssen in Richtung der ersehnten Heimat. In der Wesermündung beim Feuerschiff "Weser" lagen nun endlich zwei Schlepper, die uns auf den Haken nahmen und uns weseraufwärts direkt an die Pier der Werft AG Weser in Bremen bugsierten.
Die Seemannsfrauen, die erst sehr spät von der Reederei über die Haverie unterrichtet wurden, empfingen ihre Männer euphorisch. Die eigentlichen Helden wurden von der Reederei-Inspektion ohne großes Hallo begrüßt. Es gab für die Crew nur einen feuchten Händedruck, das war alles, was man für diese seemännische Meisterleistung übrig hatte.
Die Ladung des Schiffes wurde in der Werft gelöscht. Nach 3 Monaten Werftaufenthalt ging es wieder in die Karibik und 8 Monate später, am 11. Mai 1967, wurde es an die Reederei Nord, Klaus E. Oldendorff in Hamburg verkauft und in "Nordfels" umbenannt.
Anmerkung
Am 4. Juli 2013 schrieb ein ehemaliger Chiefingenieur aus Panama:
"Mein besonderen Glueckwunsch an Udo, das war wirklich eine Meisterleistung"!
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letztes update: 15. Oktober 2013
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